Gestern hast du in Kera’s Artikel „Essen zwischen Freund und Feind“ fünf verschiedene Formen von Essstörungen kennengelernt sowie ein Bewusstsein dafür bekommen, wie du diese möglichst frühzeitig erkennen kannst.
Heute möchten wir dir durch 4 Fragen, die wir ehemaligen Betroffenen gestellt haben, die Vielseitigkeit und die Komplexität von Essstörungen bewusst machen. Jedes Suchtsystem ist individuell, deshalb sind auch die Motive und Sehnsüchte hinter einer Verhaltenssucht wie einer Essstörung sehr unterschiedlich. Natürlich gibt es hier und da auch Parallelen, die du sicherlich in den Antworten der ehemaligen Betroffenen erkennen wirst, doch die Innenwelt der jeweiligen Person ist dennoch immer einzigartig:
Marret: „Ich glaube, die Entstehung bzw. Ausprägung einer Essstörung ist immer multifaktoriell. Damals hätte ich das sicher nicht so benennen können, aber ich bin krank geworden zu einem Zeitpunkt, als klar war, nach dem Abi geht es weg von zu Hause für eine Ausbildung und damit verbunden ein eigenständiges Leben. Ich habe mir das zwar einerseits sehr gewünscht und mich darauf gefreut, gleichzeitig hatte ich aber auch Angst, unabhängig werden und meine Eltern allein lassen zu müssen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, zuständig zu sein dafür, dass es allen gut geht. Und sich um mich selbst zu kümmern wäre irgendwie gleichbedeutend damit gewesen, die anderen auf sich allein gestellt zurück zu lassen. Durch die Anorexie musste ich diesen Schritt letztendlich nicht gehen.“
Marret’s ganze Geschichte kannst du dir hier anhören: #28: Marret’s Reise – Ich war noch nie so dankbar für mein Leben wie jetzt!
Verena: „Sehr lange kam eigentlich neben Anerkennung des Gewichtsverlusts keine Reaktion. Kritisch wurden die Anmerkungen erst, als das Körpergewicht schon sehr niedrig wurde. Trotzdem wurde es vermehrt so hingenommen und ich wurde kaum angesprochen, ob etwas nicht in Ordnung sei.“
Verena’s ganze Geschichte kannst du dir hier anhören: #50: Verena’s Journey – Lass deine Essstörung hinter dir, der Weg lohnt sich
Sonja: „Es gab, so kenne ich es auch von anderen Essgestörten, mehrere Gründe, die zusammen spielten. Ich bin mit einem süchtigen Vater großgeworden. Mein Vater ist Alkoholiker und während wir heute ein entspannt-distanziertes Verhältnis pflegen und ich seine Krankheit verstehe, war das natürlich anders, als ich Kind war. Da brachte diese Sucht meines Vaters viel Verletzung und das Unglück meiner Mutter und Instabilität und Ängste und zu viel Verantwortung für mich als Kind mit sich. Ich war auch ein eher pummeliges Kind, und Außenseiterin. Ich fand also auch keine Peergroup und das nutzte auch jemand aus. Zu meiner Geschichte gehört auch sexueller Missbrauch und alles zusammen, das Choas, die vielen Verletzungen, die Selbstzweifel und das fehlende Vertrauen in mich und die Welt, habe ich mit dem Essen und dem Gewicht zu kontrollieren versucht.“
Sonja: „Sie war lange Zeit meine einzige Möglichkeit, dem Ausdruck zu geben, was in mir drin tobte: Verletzung, Selbsthass, Überforderung. Es hat 13 Jahre Therapie gebraucht, Alternativen zu finden.“
Sonja: „Als ich krank wurde, 1998, war das mit den Sozialen Medien noch nicht so. GNTM gab es auch noch nicht. Aber im Fernsehen hatte ich immer Menschen gesehen, von denen ich dachte, ich wollte so sein wie sie. Sängerinnen, Schauspielerinnen, Berühmte, Beliebte. Das war aber nicht, dass ich ihnen nacheiferte, weil sie schön, sondern vermeintlich beliebt, also wertvoll, und glücklich waren. Dazu gehörte aber eben auch, dass sie schöne Menschen waren – und so wollte ich dann eben auch sein.“
Sonja: „Mein Vater konnte natürlich nie damit umgehen, er hat mir immer große Vorwürfe gemacht. Meine Mutter war wirklich stark, finde ich im Nachhinein. Denn sie hat sicher viel mehr gelitten, als sie mir je gezeigt hat. Seit ich selbst Mama bin, verstehe ich erst, wie tief dieser Schmerz und wie groß die Ohnmacht sein muss, wenn dein KInd sich systematisch selbst zerstört. Darüber habe ich sogar mein drittes Buch geschrieben, sieben Geschichten von Eltern, deren Kinder süchtig waren – oder sind. Es ist das wohl Schlimmste, das einem als Mutter oder Vater passieren kann. Zum Glück hatte ich auch wirklich gute, echte Freunde. Und großartige Therapeuten. Ohne all diese Menschen hätte ich es nie geschafft, gesund zu werden.“
Sonja’s ganze Geschichte kannst du dir hier anhören: #41: Sonja’s Reise – Du bist gut, wie du bist, sagt die Liebe…
Ich möchte mich an dieser Stelle nochmal bei Marret, Verena und Sonja von ganzem Herzen für ihre Offenheit und ihr Vertrauen bedanken! Marret, Sonja und Verena waren mit ihren bisherigen Lebensgeschichten bereits zu Gast im SoulFood Journey Podcast. Außerdem habe ich Marret und Sonja vor Kurzem bei einem Filmdreh von Waage e.V. – Fachzentrum für Essstörungen in Hamburg persönlich kennengelernt, was eine wunderschöne Überraschung war.
Morgen an Tag 3 der „Bewusstseinswoche: Essstörung 2018“ erzählt dir Shirley Hartlage von Waage e.V. – Fachzentrum für Essstörungen, welche Möglichkeiten der Unterstützung es gibt und was du tun kannst, wenn du Anzeichen einer Essstörung bei dir selbst, Freunden oder Bekannten wahrnimmst.